»Suizidalität im Alter« mit Prof. Dr. med. Reinhard Lindner
Prof. Dr. med. Reinhard Lindner ist Professor für Theorie, Empirie und Methoden der Sozialen Therapie am Institut für Sozialwesen der Universität Kassel und einer der Leiter des Nationalen Suizidpräventionsprogramm für Deutschland (NaSpro). In der Ringvorlesung am 24. Juni behandelte er das sensible Thema »Suizidalität im Alter«.
Suizidwünsche und Suizidalität werden in unserer Gesellschaft primär jüngeren Bevölkerungsschichten zugeordnet. Statistiken zeigen jedoch deutlich, dass Suizid vielmehr die Handschrift des Alters - und noch spezifischer – die des alten Mannes trägt. Ab einem Alter von über 70 Jahren ist das Risiko Suizid zu begehen 5mal höher als in der Normalbevölkerung. Das Verhältnis von älteren Männern und Frauen, die sich das Leben nehmen, liegt bei 3:1. Suizidalität im Alter ist geprägt von einem breiten Spektrum, welches von »Lebenssattsein«, also zufrieden sein mit dem im Leben Erlebten und Erreichten, über die »Lebensmüdigkeit«, d.h. dem Wunsch nach Sterben, aber ohne eigene Aktivität, bis hin zu Suizid und zur durchgeführten Selbsttötung reicht.
Insbesondere in der letzten Lebensspanne eines Menschen können Faktoren, wie Erkrankungen, Vereinsamung, Ohnmachtsgefühle, aber auch Autonomieverlust und Hoffnungslosigkeit Suizidgedanken auslösen. Wie in jedem Alter sind diese Faktoren natürlich geprägt von der individuellen Biografie des Menschen. Bei der Anwendung von gesunden – über das gesamte Leben hinweg aufgebauten – Bewältigungsstrategien und Abwehrmechanismen muss das Erleben oder die Angst vor diesen Faktoren nicht unbedingt den Wunsch nach Suizid nach sich ziehen. Schutzfaktoren vor suizidalem Erleben im Alter sind zudem innere und soziale Flexibilität, die Einstellung zu Religion, eine bewusste Auseinandersetzung mit dem eigenen Altersbild sowie starke Beziehungen, Mobilität und gutes Wohnen.
Im klinischen Kontext, aber auch in Senioreneinrichtungen sollten Pflegende, Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen im Kontakt mit suizidalen älteren Patient*innen zu allererst Hilfe in Form einer unterstützenden Beziehung anbieten. Es ginge nicht darum, sofort eine Lösung vorzuschlagen. Vielmehr solle man in Kontakt kommen und für die Person da sein. Denn – und das betont Prof. Dr. Lindner – Suizid ist eine Option. Für jeden Menschen, in jedem Alter. Seiner Meinung nach ginge es bei der Prävention nicht um das Verhindern von Suizid um jeden Preis. Vielmehr solle das Leid des Menschen so weit wie möglich gelindert werden, um das jeweilige Leben lebenswert zu erhalten. Als Fazit für Angehörige, Freunde und Pflegende kann also mitgenommen werden: Jede Person trifft eigenständige Entscheidungen. Und die können wir manchmal weit weniger beeinflussen als wir es uns wünschen.